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Naumannit
Formel: Ag2Se
Typlokalität:
Tilkerode, Harz, Sachsen-Anhalt
Erstbeschreibung:
ROSE, G. (1828): Über ein neues Selenerz vom Harz.- Annalen der Physik und Chemie 90 (= Poggendorffs Annalen der Physik
und Chemie 14), 471-473
(als "Selensilber")
Benennung:
HAIDINGER, W. (1845): Handbuch der bestimmenden Mineralogie, enthaltend die Terminologie, Systematik, Nomenklatur
und Charakteristik der Naturgeschichte des Mineralreiches.- Wien, Braumüller & Seidel, 630 p. (p. 565)
(als "Naumannit", ohne eigene Untersuchungen)
Metallisch grauer Naumannit. Steinbruch Rieder, Gernrode, Harz, Sachsen-Anhalt. Bildbreite 2,5 cm. Sammlung und Foto Thomas Witzke.
Selenminerale von Tilkerode
Der Berliner Mineraloge Gustav ROSE (1828) bemerkte das Silberselenid unter den Erzen von Tilkerode zuerst:
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"Unter den Stufen von Selenblei von Tilkerode am östlichen Harz, die sich in der Königlichen Mineraliensammlung in Berlin
befinden, fielen mir einige Stücke auf, an denen man ganz deutlich kleine Gänge bemerken konnte, die besonders deutlich in dem das Selenblei
begleitenden röthlichen und dichten Bitterspath zu erkennen waren, aber auch in das körnige Selenblei fortsetzten. Die Gänge, die höchstens
die Mächtigkeit von einer Linie erreichten, waren mit einer Substanz ausgefüllt, die im Ganzen dem Selenblei glich. In der Meinung, dass
sie recht reines Selenblei seyn könnte, nahm ich sie heraus, um ihr specifisches Gewicht zu bestimmen. Als ich sie aber zuvor vor dem
Lötrohr untersuchte, fand ich, dass sie sich ganz anders verhielt, und der Hauptsache nach aus Selensilber bestand.
Das Selensilber lässt sich sehr leicht von dem Bitterspath ablösen, und man erhält so Plättchen von der Dicke des Ganges. Diese kleinen
Platten sind aber ganz krystallinisch, und leicht und vollkommen in 3 Richtungen spaltbar, die sich unter Winkeln von 90° schneiden.
Die 3 Spaltungsflächen sind dem Ansehn nach von gleicher Vollkommenheit, und daher wohl parallel den Flächen des Würfels.
Es ist von Farbe eisenschwarz, und ziemlich von der Farbe des braunstrichigen Graubraunsteinerzes, im Strich unverändert, stark
metallischglänzend und undurchsichtig.
Es ist geschmeidig, doch nicht so sehr wie das Schwefelsilber oder Glaserz, die Härte ist zwischen der des Steinsalzes und des
Kalkspathes, das spec. Gew. = 8,00 bei einer Temperatur von 17° R. [...]
Um die relative Menge der Bestandtheile zu finden, die, wie sich aus dem Verhalten vor dem Lötrohr ergiebt, in Selen und Silber
bestehen, wozu noch Blei zu rechnen ist, das aber erst bei der Analyse aufgefunden wurde, löste ich 1,126 Grammen in rauchender
Salpetersäure auf. Die Auflösung wurde mit Wasser verdünnt, und mit Chlorwasserstoffsäure gefällt. Das gefällte und gut ausgesüsste
Chlorsilber wog geschmolzen 0,980 Grm., entsprechend einem Gehalt von 65,56 Proc. Silber im Mineral. Die filtrirte Flüssigkeit wurde
mit Ammoniak neutralisirt, und mit einem Ueberschuss von wasserstoffschwefeligem Schwefelammonium versetzt. Es schlug sich hierbei
Schwefelblei nieder, während das Selen in dem Ueberschuss des wasserstoffschwefeligen Schwefelammoniums aufgelöst blieb. Das
Schwefelblei wurde filtrirt und durch Salpetersäure vollkommen oxydirt; es gab 0,081 Grm. schwefelsaures Bleioxyd, welche 4,91
Proc. Blei im Mineral anzeigen. [...] Da nun 65,56 Silber 24,05 Selen, und 4,91 Blei 1,88 Selen aufnehmen, so würde nach dieser
Analyse das Selenerz aus 89,61 Selensilber und 6,79 Selenblei bestehen, wobei sich aber ein Verlust von 3,6 Proc. ergäbe, der
nur zum Theil daher rühren kann, dass das Blei eisenhaltig ist, das Eisen aber eine grössere Capacität hat als das Blei. Ich
habe indes die Analyse nicht wiederholen wollen, um nicht zu viel von dem Material zu verbrauchen. Diess wird jedoch wohl bald
geschehen können. Da das Selenblei jetzt wieder am Harze vorgekommen ist, und also auch das Selensilber wohl häufiger wird
gefunden werden.
Es scheint wohl am zweckmässigsten, für das neue Mineral den Namen Selensilber einstweilen beizubehalten."
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Die von ROSE gefundene Dichte für das Mineral von 8.00 liegt etwas über der theoretischen Dichte von 7.87
g/cm3 und dürfte wohl auf Beimengungen von Clausthalit zurückzuführen sein, wie aus der Analyse (siehe
Tabelle) auch ersichtlich ist.
Die Benennung des Minerals
Ernst Friedrich GLOCKER (1831) gab dem Mineral den Namen "Selensilberglanz".
Neben der englischen Bezeichnung "Selensilver" wählte James Dwight DANA (1844) den Namen "Lunites selenicus" nach
der ursprünglich für Tiere und Pflanzen entwickelten LINNÉschen Nomenklatur. Der Name erfuhr jedoch keine weitere
Verbreitung. Das galt auch für die von Ernst Friedrich GLOCKER 1847 aufgestellten Namen "Argyrites selenicus"
oder "Argyrites eutomus".
Bereits vorher hatte Wilhelm HAIDINGER (1845) das Mineral in seinem 'Handbuch der bestimmenden Mineralogie' als
Naumannit nach dem deutschen Kristallographen und Geologen Karl Friedrich NAUMANN (1797-1873) benannt:
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"21 Naumannit. H. Tessularisch. Theilbarkeit Hexaeder, vollkommen,leicht zu erhalten. Eisenschwarz. Geschmeidig. H = 2.5, G = 8.0.
Tilkerode, Harz. AgSe. Selensilber."
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Das "H." steht für HAIDINGER als Namensgeber. Mit "tessularisch" ist das kubische Kristallsystem gemeint. Eigene
Untersuchungen an dem Mineral führte Wilhelm HAIDINGER nicht durch. Auf Grund des damals zu hoch angenommenen
Atomgewichtes von Ag muss der Anteil dieses Elements in der von HAIDINGER angegebenen Formel verdoppelt werden.
Weitere Untersuchungen
J. MARGOTTET veröffentlichte 1877 Versuche zur Synthese von Silberselenid. Er erhielt bei Einwirkung von Selen-Dämpfen
auf Silber in Rotglut unter einem Stickstoff-Strom dünne, bis 2 cm lange Nadeln, die sich bei Fortsetzung des Versuches in
stahlgraue Rhombendodekaeder umwandelten. MARGOTTET nimmt die Formel AgSe und kubische Symmetrie für das Material an.
Friedrich ROESSLER (1895) ließ das Silberselenid aus einer Bismutschmelze kristallisieren. Auch er erhielt rhombendodekaedrische
Kristalle.
Lewis S. RAMSDELL (1925) gibt für Naumannit die Formel (Ag2,Pb)Se an und stellt fest, dass sich die Struktur
von der von Galenit unterscheidet. Nähere Erkenntnisse zur Struktur gelangen jedoch nicht. Paul RAHLFS (1936) fand, dass das Silberselenid
in zwei Modifikationen auftreten kann. Die Hochtemperatur-Modifiktion, von ihm α-Ag2Se genannt, besitzt ein
kubisch-körperzentriertes Gitter (heute als innenzentriert bezeichnet), Raumgruppe Im3m mit zwei Formeleinheiten pro Zelle. Die
Tieftemperaturform kristallisiert nicht kubisch.
Ausführliche Untersuchungen zum Naumannit und anderen Seleniden konnte J.W. EARLEY (1959) vornehmen. Für die Studien
verwendete er einen Naumannit von der Typlokalität Tilkerode. Das Mineral war mit Claustahlit verwachsen und wurde von Chalcopyrit
und Carbonaten begleitet. EARLEY stellte fest, dass sich der Naumannit unter dem Binokular nur schwer von
Clausthalit unterscheiden lässt. Naumannit ist etwas stärker glänzend als Clausthalit und läuft mit der Zeit bräunlich irisierend an.
Eine Spaltbarkeit zeigte sich nicht. Im Anschliff unter dem Erzmikroskop ist Naumannit grau, dunkler als Naumannit und zeigt keine
Spaltbarkeit, aber eine schwachen, jedoch deutlichen Pleochroismus von hellgrau zu dunkelgrau. Naumannit lieferte ein komplexes
Röntgendiagramm, das sich nicht kubisch indizieren ließ, sondern eher einem monoklinen Diagramm entsprach. Es ließen sich jedoch keine
für eine nähere Untersuchung geeigneten Einkristalle gewinnen. Nach Syntheseversuchen stellte EARLEY fest, dass
Naumannit natürliches β-Ag2Se darstellt, also die unterhalb von 122 - 133°C stabile Tieftemperatur-Modifikation.
Die Gitterparameter konnten erstmals von J.B. CONN & R.C. TAYLOR (1960) bestimmt werden. Sie fanden für das
β-Ag2Se eine orthorhombische Zelle mit a = 4.344, b = 7.111, c = 7.790 Å.
Eine erste Strukturanalyse konnten Z.G. PINSKER et al. (1965) vornehmen, jedoch nur an einem Dünnschichtpräparat.
Sie fanden die Raumgruppe P2221. Die Tieftemperaturmodifikation wird von den Autoren als
α-Ag2Se
bezeichnet. Eine verbesserte Strukturanalyse publizierte G.A. WIEGERS (1971). Er fand die Raumgruppe
P212121 und die Gitterparameter a = 4.333,
b = 7.062 und c = 7.764 Å bei Z = 4. Naumannit weist strukturelle Ähnlichkeiten zu dem monoklinen Acanthit auf.
Eine Strukturverfeinerung wurde von YU & YUN (2011) vorgenommen. Die vorher gefundene Raumgruppe
wurde bestätigt. Die Gitterparameter a = 4.3359, b = 7.070 und c = 7.774 Å sind sehr ähnlich den
bereits bekannten. Es konnten jedoch weitere Details zur Struktur wie anisotrope Temperaturfaktoren bestimmt werden.
Zwischen Naumannit und Acanthit gibt es keine komplette Mischbarkeit. Im Naumannit kann das Selen durch einen kleinen Teil Schwefel
vertreten werden. Die Zusammensetzung umfasst den Bereich von Ag2Se bis
Ag2Se0.88S0.12. Zwischen Naumannit und Acanthit
existiert als separate Phase Aguilarit, Ag4SeS, ebenfalls mit einem kleinen, definierten Bereich bei
der Zusammensetzung (PETRUK et al., 1974).
Bei Neuuntersuchungen (PINGITORE et al., 1992; BINDI & PINGITORE, 2013) zeigte sich, dass Naumannit mehr Schwefel einbauen kann, als bisher angenommen. Es gibt eine orthorhombische
Mischkristallreihe von Ag2Se bis zu
Ag2Se0.7S0.3 sowie eine monokline Reihe von
Acanthit zu Aguilarit, von Ag2S bis
Ag2Se0.6S0.4. Aguilarit kristallisiert damit
monoklin und nicht wie vorher angenommen, orthorhombisch.
Ein weiterer Fundort im Ostharz
Etwa 10 km nördlich von Tilkerode liegt der Grauwackesteinbruch Rieder, zwischen Gernrode und Ballenstedt. In dem Steinbruch
konnte in den 1990er Jahren eine Selenmineralisation entdeckt werden. Hauptmineral ist Clausthalit, als Seltenheit konnte
jedoch auch Naumannit nachgewiesen werden (röntgendiffraktometrische Analyse, Th. WITZKE, nicht publiziert).
Aus dem Westharz ist Naumannit aus den Selenvererzungen von der Grube 'Roter Bär' bei St. Andreasberg, den Gruben 'St. Lorenz' und 'Charlotte' bei
Clausthal-Zellerfeld sowie der Grube 'Brummerjahn' bei Zorge bekannt.
Chemische Analyse von Naumannit (in Masse-%)
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Selensilber, von Tilkerode (ROSE, 1828) |
Naumannit, theoretische Zusammensetzung |
Ag |
65.56 |
73.20 |
Pb |
4.91 |
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Fe |
Spur |
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Se |
25.93 1) |
26.80 |
Summe |
96.40 |
100.00 |
1) berechnet
Literatur:
BINDI, L. & PINGITORE, N.E. (2013): On the symmetry and crystal structure of aguilarite,
Ag4SeS.- Mineralogical Magazine 77, 21-31
CONN, J.B. & TAYLOR, R.C. (1960): Thermoelectric and Crystallographic Properties of Ag2Se.-
Journal of the Electrochemical Society 107, 977-982
DANA, J.D. (1844): A System of mineralogy, comprising the most recent discoveries.- New York and London, Wiley &
Putnam, 2nd edition, 633 p. (p. 487)
EARLEY, J.W. (1950): Description and synthesis of the selenide minerals.- American Mineralogist 35, 337-364
GLOCKER, E.F. (1831): Handbuch der Mineralogie.- Nürnberg, bey Johann Leonhard Schrag, 1009 p. (p. 421-422)
GLOCKER, E.F. (1847): Generum et Specierum Mineralium Secundum Ordines Naturales digestorum Synopsis.- Halle, bei
Eduard Anton, 347 p. (p. 24)
HAIDINGER, W. (1845): Handbuch der bestimmenden Mineralogie, enthaltend die Terminologie, Systematik, Nomenklatur
und Charakteristik der Naturgeschichte des Mineralreiches.- Wien, Braumüller & Seidel, 630 p. (p. 565)
MARGOTTET, J. (1877): Reproduction des sulfure, séléniure et tellurure d'argent cristallisés et de l'argent filiforme.-
Comptes Rendus hebdomadaires des Séances de l'Académie des Sciences 85, 1142-1143
PETRUK, W.; OWENS, D.R.; STEWART, J.M. & MURRAY, E.J. (1974): Observations
on acanthite, aguilarite and naumannite.- Canadian Mineralogist 12, 365-369
PINSKER, Z.G.; CHOU Ching-Liang; IMANOV, R.M. & LAPIDUS, E.L. (1965):
Determination of the crystal structure of the low-temperature phase α-Ag2Se.- Soviet Physics -
Crystallography 10, 225-231
PINGITORE, N.E.; PONCE, B.F.; EASTMAN, M.P.; MORENO, F. &
PODPORA, C. (1992): Solid solutions in the system Ag2S-Ag2Se.-
Journal of Material Research 7, 2219-2224
RAHLFS, P. (1936): Über die kubischen Hochtemperaturmodifikationen der Sulfide, Selenide und Telluride und des einwertigen Kupfers.-
Zeitschrift für physikalische Chemie (B) 31, 157-194
RAMSDELL, L.S. (1925): The crystal structure of some metallic sulfides.- American Mineralogist 10, 281-304
ROESSLER, F. (1895): Synthese einiger Erzmineralien und analoger Metallverbindungen durch Auflösen und Krystallisierenlassen
derselben in geschmolzenen Metallen.- Zeitschrift für anorganische Chemie 9, 31-77
ROSE, G. (1828): Über ein neues Selenerz vom Harz.- Annalen der Physik und Chemie 90 (= Poggendorffs Annalen der Physik
und Chemie 14), 471-473
WIEGERS, G.A. (1971): The crystal structure of the low-temperature form of silver selenide.- American Mineralogist 56,
1882-1888
YU, J. & YUN, H. (2011): Reinvestigation of the low-temperature form of Ag2Se
(naumannite) based on single-crystal data.- Acta Crystallographica E67, Structure Reports Online, i45
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